Der Wolf, der eigentlich eine Bärin ist
Sonderausstellung im Diözesanmuseum Paderborn vermittelt die Antikenbegeisterung des Frühmittelalters
Wie gelangte antikes Wissen über das Mittelalter bis in die Gegenwart? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine große Sonderausstellung im Diözesanmuseum Paderborn, an der die Aachener Domschatzkammer mit vier Leihgaben beteiligt ist. Unter dem Titel „Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter“ tritt das Museum den Beweis an, dass das Mittelalter zu Unrecht als „finster“ bezeichnet wird.
Mit insgesamt 120 einzigartigen und kostbaren Exponaten aus 50 europäischen und US-amerikanischen Museen, Archiven und Bibliotheken beleuchtet das Diözesanmuseum insbesondere die Rolle mittelalterlicher Klöster als Bewahrer und Verbreiter antiken Wissens über Politik, Philosophie, Kunst, Architektur und Literatur. Ein herausragendes Beispiel für eine mittelalterliche „Denkfabrik“ war das etwa 60 Kilometer von Paderborn entfernt liegende ehemalige Benediktinerkloster Corvey. Die Äbte des Klosters besaßen weitreichende Verbindungen nach Rom und Byzanz und gehörten zu den Gelehrten des karolingischen Hofs. Sie machten die Abtei am Weserbogen zu einem Zentrum der Übermittlung antiker Schrift, Architektur und Wandmalerei. Das 1200. Jubiläum der Klostergründung und die Anerkennung als UNESCO-Welterbe vor zehn Jahren sind Anlass der Sonderausstellung.
Trotz der jahrelangen und arbeitsintensiven Vorbereitungen ist Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann die Begeisterung für dieses Thema immer noch deutlich anzumerken. „Wenn man heute ans Mittelalter denkt, hat man oft zahnlose Mönchlein vor Augen, die im Dunklen sitzen und ihren Haferbrei schlürfen. Wir wollen zeigen, dass ein Aspekt dieser angeblich so düsteren Zeit eine große Antikenbegeisterung war. Ohne die Überlieferung der antiken Ideen wüssten wir heute sehr viel weniger, denn das schriftlich festgehaltene Gedankengut auf Papyrus hätte die Zeit nicht überdauert!“ Besonders glücklich sind Ruhmann und Museumsdirektor Dr. Holger Kempkens über das große Vertrauen, das die vielen Leihgeber und Leihgeberinnen dem Museum entgegengebracht haben.
Fast täglich waren im Vorfeld der Eröffnung Kisten mit kostbarer Fracht in Paderborn eingetroffen, darunter so faszinierende Exponate wie die „Burse von Enger“ aus dem Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin. Das Goldschmiedewerk aus dem 8. Jahrhunderts wird erstmals zusammen mit Stücken von vergleichbarem Rang gezeigt, zum Beispiel mit der „Großen Fibel von Dorestad“ – einer goldenen Gewandspange aus dem Rijksmuseum van Oudheden in Leiden. Das Musée de La Cour d’Or in Metz hat die erhaltenen Teile des reichverzierten Sarkophags von Ludwig dem Frommen, des Gründervaters der Abtei Corvey, geschickt. Die berühmte Stiftsbibliothek St. Gallen stellte kostbare Fragmente eines Werks des römischen Dichters Vergil zur Verfügung. Corvey selbst trägt mit der fast 1.200 Jahre alten, originalen Inschriftentafel vom Westwerk der mittelalterlichen Abteikirche zur Ausstellung bei.
Aus der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz reiste eine mittelalterliche Abschrift der Annalen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus zurück in ihre ostwestfälische „Heimat“: Das Geschichtswerk berichtet über die Zeit vom Tod des Kaisers Augustus bis zum Tod Neros. Der „Corveyer Tacitus“ war zu Beginn des 16. Jahrhunderts das einzig erhaltene Exemplar des Textes überhaupt. Die Medici ließen das Buch aus Corvey nach Florenz entführen, wo sein Text gedruckt und so wieder in zahlreichen Exemplaren verbreitet wurde. „Hätte diese Abschrift in Corvey nicht überlebt, wüssten wir heute beispielsweise nicht, dass die legendäre Varusschlacht im Jahr 9 nach Christus im Teutoburger Wald stattgefunden hat“, erläuterte die Leihgeberin dieses wertvollen Schrifstücks, Bibliotheksdirektorin Dr. Francesca Gallori.
Die Aachener Dombauhütte und die Domschatzkammer haben gleich vier Ausstellungsstücke entsandt: 1) eine vermutlich römische oder karolingische Bronzebasis, die in der Zeit vor der französischen Besatzung eine der Säulen des Hochmünsters im Dom trug, 2) den sogenannten Quadrigastoff, bei dem es sich um das Fragment eines byzantinischen Seidengewebes aus dem 8. oder 9. Jahrhundert handelt, sowie 3) karolingische Mosaiksteinchen, im Fachjargon „Glasmosaik-Tesserae“ aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Aus der Vorhalle des Aachener Doms ist 4) die berühmte bronzene Bärin nach Paderborn gereist. In den nächsten Monaten muss die Aachener Bevölkerung aus diesem Grund auf ihre „Lupa Carolina“ verzichten. Anlässlich der Paderborner Ausstellung wurde die Bonzeplastik wissenschaftlich untersucht. Die spannenden Ergebnisse wurden jetzt erstmals im begleitenden Katalog publiziert.
Laufzeit:
September 2024 – 26. Januar 2025
Öffnungszeiten / Tickets:
Dienstag bis Sonntag, 10–18 Uhr, jeden ersten Mittwoch im Monat bis 20 Uhr. 12 Euro /ermäßigt 6 Euro, freier Eintritt für Kinder bis 12 Jahren
Das umfangreiche Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm, eine Reihe von Videointerviews mit an der Ausstellung beteiligten Forschenden und weitere Informationen zu Tickets und Anfahrt sind hier zu finden: www.erbe-der-antike.de
Neue Erkenntnisse zur Herkunft der Bronzebärin
Wölfin oder Bärin? Griechisch oder römisch? Der Anblick der in der Vorhalle thronenden Tierplastik ist der Aachener Bevölkerung sehr vertraut. Über Jahrhunderte sahen die Menschen in ihr den Wolf aus der Dombausage, die „Lupa Carolina“. Dabei galt kunsthistorisch schon lange als gesichert, dass es sich bei der Skulptur nicht um einen Wolf, sondern um eine Bärin handelt. Herkunft, Datierung und Zusammensetzung waren jedoch unklar. Zuletzt war sie in Fachkreisen als mutmaßlich hellenistisch gedeutet worden. Diese Theorie kann nun ins Reich der Legenden verbannt werden. Anlässlich der geplanten Ausstellung hatten die Domschatzkammer Aachen und das Diözesanmuseum Paderborn eine Untersuchung veranlasst, die Fragen zur antiken Herstellungstechnik sowie zu späteren Reparaturen und Restaurierungsmaßnahmen klären sollte.
Bestätigt hat sich, dass der Guss der Tierplastik nach einem indirekten Wachsausschmelzverfahren erfolgt ist. Anhand sichtbarer Arbeitsspuren im Inneren der Bronze konnten entsprechende Abläufe im Herstellungsprozess rekonstruiert werden. Der Guss wird im wissenschaftlichen Exposé als sehr qualitätvoll bewertet, Gussfehler sind demnach kaum vorhanden. Wirbelstrommessungen und Röntgenfluoreszenzanalysen ergaben, dass die Bärin aus einer bleihaltigen Legierung gegossen wurde, die mit römischen Bronzen vergleichbar ist. Hohe Zugaben an Blei ermöglichten einen dünnwandigen Guss und erhöhten die Abbildungsgenauigkeit. Dadurch konnten die Hersteller feine Details wie die Fellzeichnung, das abgenutzte Gebiss oder die vorhandenen Wunden – es handelt sich nicht um ein Jungtier, sondern um eine ältere, kampferprobte Bärin – anlegen. Herstellungstechnik und Materialanalysen deuten auf eine römische Werkstatt hin. Einen hellenistischen Ursprung schließt die von Frank Willer, Lisa Meffire und Roland Schwab verfasste Untersuchung aufgrund der Bleiisotopendaten aus.
An der Bärin lassen sich zwei Reparaturphasen rekonstruieren: Schon lange war bekannt, dass der linke Vorderlauf und die rechte vordere Tatze aufgrund eines Schadens im Jahr 1820 erneuert worden waren. Neu ist, dass offenbar bereits zuvor der rechte Vorderlauf ausgewechselt wurde. Die Ergänzungen des Beins weichen von der Bronzelegierung des Körpers deutlich ab.
Dr. Birgitta Falk, die Leiterin der Aachener Domschatzkammer, findet die neuen Erkenntnisse hochspannend und wertvoll. „In der Aachener Domschatzkammer sind wird froh und dankbar für die wunderbare Kooperation mit dem Paderborner Museum. Unsere Bärin, ein in seiner Komplexität weithin unterschätztes Kunstwerk, war bisher kaum erforscht. Durch die Ausstellung wurde es möglich, die Figur, ihren Zustand und ihre Geschichte umfassend zu untersuchen, mit vielen erstaunlichen Ergebnissen. In Paderborn thront die Bärin nun ganz prominent im Eingangsbereich der Ausstellung, wodurch die Schönheit und künstlerische Qualität dieses antiken Kunstwerks auch einmal außerhalb Aachens sichtbar wird!“