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Hans-Günther Vienken, der Menschenfischer

Eine persönliche Würdigung von Martin Wüller


Hans-Günther Vienken war für mich von Jugend an ein sehr wichtiger Mensch in meinem Leben. Wenn ich hier einzelne Begebenheiten schildere, tue ich das in dem Bewusstsein, dass diese beispielhaft sind für ungezählte ähnliche Momente vieler Hunderter, wenn nicht Tausender junger Menschen, die Hans-Günther Vienken gekannt haben.

Kennengelernt habe ich Domvikar Vienken durch eine Besinnungsfahrt auf die Wildenburg während kleiner Schulferien irgendwann in den frühen 1980er Jahren, nachdem ich aus dem Knabenchor des Domchores ausgeschieden war. Ein Freund und ich wurden irgendwie darauf aufmerksam (gemacht?), nach meiner Erinnerung als Schüler des Kaiser-Karls-Gymnasiums. Dieser Fahrt sollten viele weitere folgen, zunächst als Teilnehmer, später auch als Begleiter. Kern dieser Besinnungstage war nie reine Katechismus-Lehre. Immer ging es um den Menschen, seine Beziehung zu Gott, „Suchen und fragen, hoffen und sehn“ und tabulos um alle Themen, die Heranwachsende entdecken und interessieren.

2014 Stefan Meul, Weberstr.5, Aachen

Große Runden im Plenum, in denen „Herr Vienken“ referierte oder medial gestützte Inputs präsentierte, wechselten sich mit Kleingruppenphasen ab. Immer gab es auch das Angebot zu Einzelgesprächen, die Einladung zur Beichte oder einfach, „mal zu quatschen“. Immer erlebte ich ihn mit schier unerschütterlichem Gottvertrauen – „Der liebe Gott tut nichts als Fügen!“ Dazu seine freundliche Art, sein herzliches und herzhaftes Lachen, das sich aus dem tiefsten Innern seinen Weg nach draußen zu bahnen schien.

Vielfältig waren auch die Gottesdienste in der Kirche der Wildenburg: mal ganz klassisch als Sonntagsmesse gemeinsam mit Einheimischen, eventuell besonders gestaltet und bereichert durch das Spiel von Instrumenten, die mitzubringen Hans-Günther Vienken im Vorfeld eingeladen hatte. Auf der Wildenburg lernte ich aber auch für mich ganz neue Gottesdienstformen kennen: mit und ohne Feier der Eucharistie, Psalmgebete, solche mit viel Stille und Zeit zum Nachdenken bei Kerzenschein und solche mit frei formulierten Fürbitten und Gebeten. Hans-Günther Vienkens Repertoire war schier unerschöpflich.

Wichtig war Hans-Günther Vienken immer auch die Pflege der Gemeinschaft, der „Communio“, und nicht selten verwies er in diesem Zusammenhang auf unseren damaligen Bischof Klaus Hemmerle. Hans-Günther Vienken war nie weltfremd. So gehörten zu gemeinschaftlichem Leben für ihn ganz praktische Dinge dazu – „Die Klobürste ist keine Zahnbürste und sollte entsprechend genutzt werden!“ – wie auch die gegenseitige Fürsorge bei den Mahlzeiten: „Wenn jeder dafür sorgt, dass es den anderen am Tisch gut geht, dann sorgen fünf Personen für einen selbst!“ Alle, die das verstanden, rangelten nicht mehr um die Fleischtöpfe und viele nahmen diese Dinge wieder mit nach Hause und in den Alltag. Auch war es selbstverständlich, dass die Mahlzeiten mit einem Gebet gemeinsam begonnen und beendet wurden. Und nie vergaß er dabei die, die dafür Sorge trugen, dass es uns gut ging: Familie Müller und Mitarbeiterinnen.

Natürlich kam auch das Gesellige nie zu kurz, insbesondere in abendlichen Spielerunden: mit- und auch übereinander lachen, ohne zu verletzen (Sternengucker, Korkenblasen, das Pfeifenspiel), gemeinsame Spaßlieder im Kanon singen („Wo die großen Elefanten spazierengehn“, „Ein Huhn, das fraß, man glaubt es kaum, die Blätter von dem Gummibaum“), Bewegungs- und Gruppenspiele wie Zimmer-frei und das legendäre Schrubberhockey.

Die Wildenburg-Aufenthalte haben mich geprägt und viele andere auch. In einem Telefonat vor rund zwei Monaten schätzte Hans-Günther die gesamte Teilnehmerzahl der Besinnungstage, die er auch für ganze Klassen des Pius-Gymnasiums und später des Kaiser-Karls-Gymnasiums durchführte, auf ein- bis zweitausend junger Heranwachsender. Hinzu kommen noch die in seiner Verantwortung als Direktor im „Päpstlichen Werk für geistliche Berufe; Informationsstelle Berufe der Kirche“ initiierten und von seiner Mitarbeiterin Erika Janssen durchgeführten Besinnungstage für Mädchen in Steinfeld.

Für Heranwachsende und junge Erwachsene beider Geschlechter gemeinsam organisierte Hans-Günther Vienken auch zahlreiche Wallfahrten, an denen auch ich als Pilger und teilweise auch als Begleiter teilnahm. Ziele waren Lourdes und Flüeli, die Heimat und Wirkungsstätte des Schweizer Nationalheiligen Niklaus von Flüe. Auch dies waren sehr und nachhaltig beeindruckende Gemeinschafts-Erlebnisse für mich.

Irgendwie sprach er dann auch die Einladung aus, bei den Dommessdienern mitzumachen. (Ich hatte wirklich bis dahin durch Beobachtungen aus dem Knabenchor gedacht, dass man hierfür „Pius-Schüler“ sein müsse!) In allerbesten Erinnerungen sind mir die Messdiener-Fahrten geblieben, die häufig für die Herbstferien durch Hans-Günther Vienken organisiert wurden: Fahrten nach Mainz, Speyer und Worms, Besichtigungen der Mercedes-Werke in Stuttgart oder des Schlosses Bruchsaal und – mein Favorit – eine Motorschiff-Tour durch die Niederlande mit Stopps u. a. in Utrecht, Delft, Amsterdam und Rotterdam. „Herr Vienken“ war stets ein gut vorbereiteter und kompetenter Reiseleiter. Ich sehe ihn noch vor mir mit dem „Reclam Kulturführer“ in der Hand. Niemals betrachtete er die Kunst isoliert. Er verstand es stets – insbesondere bei Sakralbauten – das mit Sinnen fassbare mit der Spiritualität zu verknüpfen und in eine angemessene und für seine Zielgruppe passgenaue Sprache zu bringen.

Das galt insbesondere für „seinen“ Aachener Dom als Abbild des himmlischen Jerusalem. Auch die Erlebnisse mit der Messdiener-Gruppe in Aachen schweißten zusammen und vertieften die Bindung zum Dom und damit auch an die Kirche: große Messen mit feierlicher Liturgie im Dom oder zum Katholikentag im Reitstadion und auf dem Katschhof zur Heiligtumsfahrt, Zeigung der Heiligtümer vom Turm – das Vertrauen, wenn „Herr Vienken“ einem Messdiener mit einem intensiven Blick in die Augen wortlos an Hochfesten zum Beispiel das Lotharkreuz zum „großen Einzug“ über den Domhof durch die Wolfstüre in die Hand drückte. Für ihn war das Liturgische immer wichtiger als das Museale.

Auch für den Domchor spielte Hans-Günther Vienken eine wichtige Rolle in der kritischen Zeit des Domkapellmeister-Wechsels 1986 von Dr. Rudolf Pohl zu Hans-Josef Roth. Hans-Günther – wie ich ihn inzwischen nennen durfte – hatte mich ermutigt, wieder in den Domchor einzusteigen und mich bestärkt, „beim Neuen“ vorzusprechen. Er selbst hat in dessen Anfangsjahren im ersten Bass des Domchores mitgesungen und Beziehungen geknüpft und gepflegt. Dies war nötig, denn mit dem Weggang von Dr. Pohl und kurz danach hatten nicht wenige Herren den Chor verlassen, darunter auch viele „Grufüs“, wie die jungen Herren genannt werden, die sich um die Betreuung der Knaben im Choralltag, aber vor allem auf Touren kümmern.

Das drohende Vakuum erkannte Hans-Günther Vienken. So lud er – nach meiner Erinnerung Ende 1986 oder Anfang 1987 – insgesamt fünf „Junge Herren“ zu sich nach Hause am Klosterplatz ein. Hier besprach er die Zukunft der Knabenbetreuung. Johannes Marx wurde Obergruppenführer (Gruppe 1 :D) und wir anderen – darunter Jörg Kersten und ich – bekamen die folgenden Gruppen zugeteilt, bevor wir im Frühsommer 1987 auf die erste gemeinsame Konzertreise nach England aufbrachen. Noch im selben Jahr verbrachte der Knabenchor des Domchores die erste Ferien- und Probefreizeit im Haus am Meer auf der Insel Wangerooge. Obwohl er zu dieser Zeit noch nicht Präses des Chores war, reiste Hans-Günther Vienken mit. Selbstverständlich lag die Verantwortung und Probenarbeit bei Domkapellmeister Hans-Josef Roth. Doch prägte Hans-Günther Vienken von Anfang an den Geist der Wangerooge-Touren, indem der seine gesamte Erfahrung (insbesondere) der Besinnungstage auf der Wildenburg einbrachte, auf denen einige der neuen Grufüs als Begleiter geprägt worden waren.

Wie schon auf der Wildenburg formte Hans-Günther Vienken die Gemeinschaft, diesmal die des Chores: Tischmanieren, gemeinsame Gebete vor und nach den Mahlzeiten (jetzt auch gerne mehrstimmig gesungen), die gegenseitige Fürsorge und das ganz Praktische: Er verkündete nach dem gemeinsamen Frühstück Kehr- und Spüldienste ebenso wie das Tagesprogramm, wozu in den Anfangsjahren auch immer eine in Teilgruppen organisierte geistliche Einheit gehörte, die sich mit Chorproben bei Domkapellmeister Roth und den mitgereisten Stimmbildnern sowie durch die Grufüs organisierte Freizeit-Angebote abwechselten. Und auch auf Wangerooge war Hans-Günther Vienken natürlich immer ansprechbar und Seel-Sorger. Viele werden sich an seinen Stammplatz erinnern, wenn er in freien Zeiten oben am Deich saß und im besten Wortsinne ansprechbar war oder half, das Heimweh einzelner Knaben zu überwinden. Es gab keinen Spieleabend, an dem er nicht selbst teilgenommen hätte. Und welch nachhaltiges Erlebnis es ist, über Tag gemeinsam eine riesige Strandburg zu bauen, in der wir abends bei Fackelschein eine Strandmesse mit „Jünne“ feierten, ehe der Abend am Lagerfeuer endete. Wer dabei war, wird das sein Leben lang nicht vergessen!

Auf seine Initiative geht auch zurück, dass die Grufüs Katecheten für die Firmvorbereitung wurden, die für die jugendlichen ehemaligen Chorknaben im Aachener Dom angeboten werden. (Dies gilt inzwischen natürlich entsprechend auch für den Mädchenchor.) So legte er den Grundstein dafür, dass neben der Betreuungsebene das Geistliche und Geistige Thema zwischen Chormitgliedern wird, wenn sie über den eigenen Glauben sprechen.

Bei ungezählten guten und nachhaltigen Begegnungen mit Hans-Günther ist es kein Wunder, dass bei Vielen über die Jahre eine echte Freundschaft mit ihm entstanden ist und er die Lebenswege so vieler begleitet und – beispielsweise durch die Spende der Sakramente – mitgestaltet hat.

Hans-Günther Vienken war für mich wie für so viele andere Wegbegleiter und Wegbereiter. Ohne ihn wäre ich vielleicht nicht mehr mit dabei in Domchor – vielleicht auch Kirche – und stattdessen in meinem Leben irgendwo anders abgebogen.

Ich danke von ganzem Herzen Hans-Günther, dem Menschenfischer!

Auf Wiedersehen!