„Eine Strukturreform wird der Glaubenskrise nicht gerecht“
Der Luxemburger Kardinal machte sich im Aachener Dom Gedanken zur Rolle der Kirche in den säkularisierten Gesellschaften Europas
Illusionen zum Zustand der Kirche in Europa macht sich der Luxemburger Kardinals Jean-Claude Hollerich nicht. Im Gegenteil. Was er im Rahmen seines Vortrags im Aachener Dom äußerte, hatte vielmehr den Charakter einer ungeschönten Analyse – ohne Scheu davor, (Selbst-)Kritik zu äußern und den Finger in offene Wunden zu legen. In den säkularisierten Gesellschaften der liberalen Demokratien spiele der Glaube im Leben vieler Menschen keine Rolle mehr. Im Süden Luxemburgs, so schätzte der Kardinal, sei nur noch ein Prozent der Kirchenmitglieder praktizierend. „Je wohlhabender, desto weniger!“
Ursachen für die Erosion des Bedeutungsverlusts gibt es viele, auch historische. Dr. Jürgen Linden, der Vorsitzende der Europäischen Stiftung Aachener Dom, benannte in seiner Begrüßungsansprache vor allem die Aufklärung, die Säkularisierung und von der Kirche begangene Fehler. Diese sind auch dem Kardinal bewusst. „Mit Blick auf die Skandale der katholischen Kirche muss man weinen“, befand der einflussreiche Geistliche, der zum lediglich neunköpfigen Kardinalsrat gehört, einem päpstlichen Beratergremium.
Große Verschiedenheit der Kirchen in Europa
In beinahe ganz Europa schwächelten Glaube und Religion. Als Reaktion auf die Krise hätten sich in der Kirche zwei Hauptrichtungen gebildet: Die einen wollten zurück in die Vergangenheit, die anderen die Tore weit öffnen. Hollerich plädierte für den Mittelweg, das Ringen um gemeinsame Positionen. „Wir dürfen nicht in die Vergangenheit schauen, sondern müssen zukunftsträchtig bleiben, das sind wir den Menschen schuldig!“
Die sehr große Verschiedenheit der Kirchen in Europa und die Sprachenvielfalt erschwerten eine echte Aussprache jedoch. „Nehmen wir nur einmal Deutschland, Frankreich und Polen – hier finden Sie drei völlig verschiedene Realitäten. Gemeinsame Positionen zu finden ist sehr schwierig!“ Der Erzbischof von Luxemburg forderte die nationalen Bischofskonferenzen dazu auf, stärker zusammenzuarbeiten. Es gebe eine Krise des Glaubens, die tiefer reiche als die Krise der Struktur der Kirche. „Eine bloße Strukturreform wird der Glaubenskrise nicht gerecht werden.“
In diesem Zusammenhang wollte er die Reformdebatte des Synodalen Wegs der katholischen Kirche in Deutschland zwar nicht kritisieren, jedoch stellte Hollerich die Frage, ob die deutschen Bischöfe mit diesem Weg nicht noch hätten warten können. Indirekt bezeichnete er die Partizipationsmöglichkeiten als ausbaufähig. Man habe in Gremien repräsentiert sein müssen, um bei den Versammlungen gehört zu werden. Zudem erlaubte sich Hollerich die Bemerkung, dass auch die dem Synodalen Weg kritisch gegenüberstehenden Bischöfe hätten ernster genommen werden müssen.
„Believing without belonging“
Die postmoderne Religiosität beschrieb der Kardinal mit einem Zitat: „Believing withou belonging, belonging without believing“. Während für spirituell interessierte Menschen nicht mehr unbedingt die Zugehörigkeit zur Kirche zähle, beriefen sich viele „moderne“ Christen auf die religiösen Werte, ohne jedoch in die Kirche zu gehen. Die christlichen Werte könne man jedoch nicht abkapseln von der Religionsausübung. „Das ist vergleichbar mit einem Vegetarier, der Fleisch isst“, sagte Hollerich. Ohne Gebet lasse sich der Glaube nicht erneuern, schliffen sich der Werte ab. „Wenn das alles ist, haben wir uns selbst aufgegeben!“ Gott sei auch in der säkularen europäischen Gesellschaft präsent. „Er spricht durch das Leben, er wirkt darin.“ Man müsse ihn gezielt suchen und finden – im Dialog, in der Einkehr und in der Ausrichtung auf das Evangelium.